JOHANN WOLFGANG GOETHE
Närrisches Volk im Theater
Gestern Abend habe ich die neunte Vorstellung überstanden. 1 500 Reichstaler sind eingenommen und jedermann ist mit dem Hause zufrieden. Man sitzt, sieht und hört gut und findet für sein Geld immer noch einen Platz. Mit fünf- bis sechstehalbhundert Menschen kann sich niemand über Unbequemlichkeit beschweren.
Es kommt darauf an, daß eine geschickte Wahl der Stücke, bezüglich auf die Tage, getroffen werde, so kann man auch für die Zukunft gute Einnahmen hoffen. Überhaupt ist es mir nicht bange, das Geld, was in der Gegend zu solchem Genuß bestimmt sein kann, ja etwas mehr, in die Kasse zu ziehen. Die Studenten sind ein närrisches Volk, dem man nicht Feind sein kann und das sich mit einigem Geschick recht gut lenken läßt. Die ersten Tage waren sie musterhaft ruhig, nachher fanden sich einige sehr verzeihliche Unarten ein, die aber, worauf ich hauptsächlich achtgebe, sich nicht wie ein Schneeball fortwälzen, sondern nur momentan und, wenn man billig sein will, durch äußere Umstände gewissermaßen provoziert waren. Der gebildete Teil, der mir alles zu Liebe tun möchte, entschuldigt sich deshalb mit einer gewissen Ängstlichkeit, und ich suche die Sache, sowohl in Worten als in der Tat, im ganzen läßlich zu nehmen, da mir doch Überhaupt von dieser Seite nur um ein Experiment zu tun sein kann.
Auch ein eigenes Experiment mache ich auf unsere Gesellschaft selbst, indem ich mich unter so vielen Fremden auch als ein Fremder in das Schauspielhaus setze. Mich dünkt, ich habe das Ganze sowohl als das Einzelne mit seinen Vorzügen und Mängeln noch nicht so lebhaft angeschaut.
Bad-Freuden
4. Juli
Der Ort hat einen recht schönen Eindruck auf mich gemacht, die Allee und alle Anlagen umher sind heiter, es ist für die Sozietät auf eine artige und anständige Weise gesorgt, auch fand ich's sehr volkreich und dabei ganz zwanglos, sodaß ich mich in der Masse der Menschen recht gern mit fortbewege. Ich hatte Mühe, ein Logis zu finden, und nur nach vielen Umherfragen fand man eins für mich aus, zwischen der Allee und dem Komödienhaus, das sehr hübsch gelegen ist, Parterre, an einem Garten, wo die anderen Hausnachbarn mir völlig fremd sind und mich nicht genieren. Ich esse in dem großen Salon, der sehr schön und ziemlich so groß wie der Konzertsaal im Landschaftshaus zu Weimar ist. Es war bisher immer mit 100 und 120 Gästen besetzt, wobei es sehr lustig hergeht. Es sind viele sächsische, auch einige preußische Offiziere hier und viele Damen, worunter es auch recht hübsche Gesichter gibt. Alle Abende wird nach dem Souper getanzt und den ganzen Tag gedudelt
...Man hat mir gestern nach dem Ball noch in später Nacht eine Musik gebracht, wobei viele Studenten aus Halle und Leipzig waren, sodaß ich noch nicht recht habe ausschlafen können, auch des Morgens haben sie mich mit Musik begrüßt.
6. Juli
Gestern war kein Theater; die Jagemanns und ihre Gesellschaften sind auf einen Besuch nach Giebichenstein zu Reichardt, und ich habe hier den Tag recht mit Nichtstun zugebracht. Ich blieb von Mittagszeit an bis abends immer in der Gesellschaft, die sich in der Allee und in den kleinen Pavillons herumtreibt, aber eine Anzahl junger Berliner, die hier sind, hat doch recht unterhaltende Gespräche veranlaßt.
Am Montag waren Niemeyers hier und haben mir keine Ruh gelassen, sie diese Woche in Halle zu besuchen
...9. Juli
Gestern abend um halb elf kam ich von Halle zurück, wo ich mich außer Niemeyers Pädagogium, welches eine kleine Stadt ist, nicht sehr viel umgesehen, weil ich mich etwas angegriffen fühlte und die Bewegung scheute. Sie haben mich sehr geehrt und tüchtig aufgeschüsselt. Ich genieße aber überhaupt hier wenig, weil ich mich so am besten vor den Krämpfen schütze. Halle gefällt mir nicht, und in der Gesellschaft hörte ich nichts als Anekdoten erzählen.
Hier verfällt man auf allerlei Unterhaltungen. Vor wenigen Tagen machten zwei Trupp preußischer und sächsischer Offiziere, welche in zahlreicher Menge hier sind, ein Manöver gegeneinander auf dem Wege nach Merseburg, alles zu Pferd. Ich ritt auch mit, auch kamen viele Kutschen von Zuschauern; es gab malerische Gruppen und Bewegungen, und weil heftig geschossen und geritten wurde, so hatte es ein ordentlich kriegerisches Ansehen. Mittags fanden sich die Kämpfer und Zuschauer bei der Tafel zusammen, wo es dann sehr über den Champagner herging, der hier mit sündlicher Verschwendung getrunken wird.
RICHARD WAGNER
Der Kapellmeister und die erste Liebhaberin
Dieser kleine Badeort hatte zur Zeit Goethes und Schillers eine höchst rühmliche Bedeutung gewonnen; das aus Holz errichtete Theater war nach Goethes Plan ausgeführt; dort hatte die erste Aufführung der »Braut von Messina« stattgefunden. Obwohl ich mir dies alles sagte, machte der Ort doch einen sehr bedenklichen Eindruck auf mich. Ich erkundigte mich nach dem Hause des Theaterdirektors; dieser war ausgegangen. ein kleiner schmutziger Junge, sein Sohn, sollte mich nach dem Theater führen, um »Papa« aufzusuchen. Doch schon unterwegs begegnete er uns, ein ältlicher Mann im Schlafrock und eine Mütze auf dem Kopf. Seine Freude, mich zu begrüßen, unterbrach er durch Klagen über große Üblichkeit, gegen welche ihn sein Sohn mit einem Schnaps aus der nahegelegenen Bude versorgen sollte, wozu er ihm mit einiger auf mich berechneten Ostentation einen wirklichen Silbergroschen in die Hand drückte. Dieser Direktor war Heinrich Bethmann, der Witwer der berühmten Schauspielerin Bethmann, welche, noch der schönen Periode des deutschen Schauspiels angehörend, namentlich die Gunst des Königs von Preußen so dauernd gewonnen hatte, daß diese sich noch lange Zeit über ihren Tod hinaus selbst auf ihren Gatten fortgesetzt erstreckte. Bethmann bezog stets eine gute Pension von Seiten des preußischen Hofes und genoß andauernd die Protektion desselben, ohne diese Gunst durch sein abenteuerliches und unsolides Wesen je gänzlich verscherzen zu können. Gegenwärtig war er durch anhaltendes Theaterdirektionsführen bereits auf das tiefste heruntergekommen; seine Sprache und Manieren zeigten die süßliche Vornehmheit einer vergangenen Zeit, während alles, was er tat und was ihn umgab, den unwürdigsten Verfall bezeugte. Er führte mich in sein Haus zurück, wo er mich der »Frau Direktorin« vorstellte, welche, an einem Fuße gelähmt, auf einem sonderbaren Kanapee lag, während ein älterer Bassist, über dessen zu große Anhänglichkeit Bethmann sich ohne alle Umstände gegen mich beklagte, an ihrer Seite seine Pfeife rauchte. Von da an führte mich der Direktor zu seinem Regisseur, welcher in dem gleichen Hause wohnte. Diesem, welcher soeben in Beratung mit dem Theaterdiener, einem zahnlosen alten Gerippe, über das Repertoire begriffen war, überließ er mich zu Abmachung alles Nötigen, worüber Herr Schmale, der Regisseur, achselzuckend lächelte, indem er mir beteuerte, das wäre so die Art des Direktors, ihm alles auf den Hals zu schicken und sich um nichts zu kümmern: da sitze er nun und berate sich mit Kröge schon seit einer Stunde, was nächsten Sonntag herauszubringen sein könnte; er hätte gut »Don Juan« anzusetzen, wie aber eine Probe zustande bringen, da die Merseburger Stadtmusiker, welche das Orchester bildeten, Sonnabend nicht zur Probe herüberkommen wollten? Dabei langte Schmale beständig durch das offene Fenster nach dem Zweige eines Kirschbaumes, von welchem er sich pflückte, in einem fort aß und die Kerne mit ungemeinem Geräusch ausspuckte. Besonders dieses letzte wirkte auf mich entscheidend, da ich sonderbarerweise eine angeborne Abneigung gegen Obst habe. Ich erklärte dem Regisseur, daß er wegen des »Don Juan« am Sonntag sich gar nicht zu bemühen habe, da ich meinerseits, falls man auf mein Debüt bei dieser Vorstellung gerechnet hätte, dem Direktor jedenfalls auch einen Strich durch die Rechnung machen müßte, indem ich notgedrungen sofort noch einmal nach Leipzig zurückkehren müßte, um dort meine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Diese höfliche Wendung meines gänzlichen Abschlages der Anstellung, welchen ich sofort bei mir beschlossen hatte, nötigte mich noch zu einiger Verstellung, durch welche ich in die Lage geriet, mich in Lauchstädt noch um einiges zu bekümmern, was bei meinem Entschlusse, nicht wieder zurückzukehren, an sich ganz unnötig war. Man erbot sich, mir beim Aufsuchen einer Wohnung behilflich zu sein, und ein junger Schauspieler, den ich zufällig von Würzburg her kannte, übernahm es, hierzu mein Führer zu sein. Er sagte mir, indem er mich nach der ihm bekannten besten Wohnung führte, werde er mir zugleich die Annehmlichkeit verschaffen, mich zum Hausgenossen des hübschesten und liebenswürdigsten Mädchens, welches gegenwärtig in Lauchstädt anzutreffen, zu machen-. dies sei die erste Liebhaberin der Gesellschaft Fräulein Minna Planer, von welcher ich gewiß schon gehört haben würde.
Der Zufall fügte es, daß schon unter der Türe des bewußten Hauses uns die Verheißene entgegentrat. Ihre Erscheinung und Haltung stand in dem auffallenden Gegensatze zu all den unangenehmen Eindrücken des Theaters, welche ich soeben an diesem verhängnisvollen Morgen empfangen: von sehr anmutigem und frischem Äußern, zeichnete die junge Schauspielerin sich durch eine große Gemessenheit und ernste Sicherheit der Bewegung und des Benehmens aus, welche derum Entschuldigung bäte, mich ihr damit zu zeigen; sie wollte auch dies noch erträglich finden: da meinte ich, sie würde mir doch keinen Kuß geben; wogegen sie mir sofort durch die Tat bewies, daß sie auch davor sich nicht scheue.
Üblichkeit: Übelkeit
Ostentation: Zurschaustellung
Heinrich Bethmann: B. (1774 bis 1857) war bis 1828 Schauspieler und Regisseur in Berlin
gewesen.
Aus: Richard Wagner, Aus meinem Leben, Bd. 1, München 1911