StatistikSchulpforte

Karl Friedrich Bahrdt (1741-1792) - Mir wurde die Schule zur Hölle

Ohnstreitig ist die Schulpforte eine der herrlichsten Stiftungen in ihrer Art. Sie ist bekanntlich ein Kloster gewesen und besteht noch aus allen ehemaligen Klostergebäuden. In einer Ringmauer sind die Wohnungen der Lehrer, die Schlafsäle der Zöglinge (deren gewöhnlich 150 sind), das Cönakel, die Hörsäle, die Kirche usw. eingeschlossen. Das ganze Gebäude liegt in einem schönen Tale, aber zu gepreßt angelehnt an dem Fuß eines Gebirges, das hoch darüber hervorragt und es in einen düsteren Schatten versenkt.

Aus dem Gebäude heraus darf kein Schüler sich wagen. Selbst der schöne große Baumgarten, von dessen Obstreichtümern nie eine Schale zur Klause gelangt, ist ihnen bei hoher Strafe untersagt. Ihre Schritte dürfen nie weiter gehen, als sich die Schlafsäle, Cönakel und der sogenannte Kreuzgang erstrecken. Letzterer ist der einzige Ort, wo sie Bewegung und frische Luft genießen. Frischere gibt's für sie im Winter gar nicht und im Sommer sehr selten. In diesem Kreuzgang, der innerhalb der Gebäude ringsherum geht, ist es ihnen vor und nach Tische erlaubt, zu ambulieren und zu verdauen. Außer den zum Ambulieren gestatteten Zeiten müssen sie beständig - Winterszeit im Cönakel und im Sommer auf ihren Zellen - sitzen und studieren ... Alle übrigen Gebäude außer der Klause gehören zur Ökonomie und werden wie die Gärten vom Schulinspektor benutzt, welcher zu meiner Zeit ein garvornehmer Herr war, der sich weidlich von dem Obste und Fette und Weine mästete und bereicherte, der für die Schüler gestiftet war, und manches fette Stück Ochsenfleisch und manchen Masthammelbraten an die Herren Schulkollegen spazieren ließ, um ihnen die Augen zuzudrücken. So sagte man laut.

Alle Erholungen der Schüler bestunden, wie ich schon gesagt habe, in dem Ambulieren im Kreuzgange. Nur Sommerszeit wurden sie sämtlich in einem Zuge von dem Lehrer, welcher diese Woche die Inspektion hatte, zuweilen -etwa einmal wöchentlich - auf den freien Platz geführt, welcher vor dem Kloster lag, wo sie ein paar Stunden Ball schlagen oder Kegel schieben durften. Fünfzehnmal im ganzen Sommer war Hauptpromenade, welche der unwissendste und in der Diätetik unkundigste Mensch erfunden haben muß. Nämlich, die ganze Schule zog mittags um ein Uhr in der größten Hitze aus, mit Musik und dem Gesang »Salve cordis gaudium, salve Jesu etc.«, und mußte so in Prozession den hohen steilen Berg hinaufklimmen, an welchem das Kloster lag. Das war ein Gang bergauf, der wenigstens drei Viertelstunden dauerte und wo die Sonne gerade auf den felsigsten und steilen Fußsteigen lag, auf welchen die Kinder schwitzend und keuchend hinaufsteigen und noch die Ballons und Kegel schleppen mußten, von denen jeder Tertianer einen in seiner Zelle in Verwahrung hatte und auf dem Spielplatze abliefern mußte. Wenn die Kinder hinauf waren, mußten sie auf die schattenlosen Plätze sich verfügen, welche jeder Klasse ein für allemal angewiesen waren. Zum Glück gab's oben nichts zu trinken. Nach Verfluß von zwei Stunden wurde von den Inspektoren gepfiffen, worauf die Schüler von allen Seiten zusammenlaufen und der Visitation beiwohnen mußten, um auf die Vorlesung ihres Namens »Hier!« zu antworten. Zwei Stunden nachher wurden sie abermals visitiert und den Berg wieder hinabgeführt. Konnte eine so erhitzende Strapaze wohl den geringsten Nutzen haben?

Die Macht der Obern war zu groß. Denn wirklich hatten die Inspektoren unter den Schülern mehr Gewalt oder übten wenigstens eine größere Gewalt aus als die Präzeptoren selbst ... Wenn denn in der Klasse ein Knabe war, den etwa die Natur mit Schüchternheit, Dummheit oder des etwas verhunzt hatte oder welcher im Verdacht war, daß er hochmütig oder ein Pfeifjunge sei oder welchen der Herr Inspektor für seine Person nicht leiden konnte- so ward ein solcher Knabe bei aller Gelegenheit mauschelliert und gemißhandelt. Insonderheit waren die Pfeifjungen der allgemeine Gegenstand inspektorischer Tyranneien. Nämlich man belegte denjenigen mit diesem Namen, welcher irgendeinmal sich auch nur verdächtig gemacht hatte, daß er bei einem der Präzeptoren besonders gut angeschrieben sei und demselben entweder eine Klage über die ihm widerfahrenen Mißhandlungen angebracht oder einen bösen Streich der Obern ihm verraten habe. Solche Unglücklichen blieben keinen Tag ohne Prügel. Denn alles gab den Tyrannen Gelegenheit dazu. Sie durften nur zum Gebet, in die Lektion oder zum Essen eine Sekunde zu spät kommen oder ihr Hymnenbuch vergessen haben oder ein Loch im Strumpf sehen lassen, so regnete es Ohrfeigen, die nie so barbarisch gegeben worden sein müssen, als ich's in der Schulpforte erlebt habe. Es ist die Mühe wert, eine Beschreibung davon zu lesen.

Man denke sich den Inspektor an der Tür. Der arme Knabe, auf dessen Ankunft schon vigiliert wird, tritt herein. Der Inspektor schreit: » Steh, Kanaille! Wo kommst du so spät her?« oder »Wo hast du deinen Spanier?« oder so etwas. Der Knabe schweigt und stellt sich wie ein Lamm in geradester Figur vor seinen Tyrannen hin. Denn wenn er das nicht gleich tat, so ward er auf der Stelle mit Füßen getreten. Nun holt der Inspektor mit der flachen Hand aus und zieht ihm nach Leibeskräften eine Ohrfeige, daß das Cönakel erschallt und alle Finger sich auf den blutroten Wangen abdrücken. Der Knabe wankt, der Inspektor wiederholt sein: »Steh, Kanaille!« Hierauf zieht er mit der linken Hand ihm eine ebensolche Ohrfeige, daß auch der andere Backen ihm quillt. »Hund, steh!« Und so wechselt wieder die rechte Hand, bis der Barbar genug hat. Und nun geht der Knabe betäubt und mit aufgelaufenem Gesicht an seinen Platz, spricht kein Wort und darf gar nicht tun, als ob ihm etwas Unangenehmes begegnet wäre, wenn er nicht von seinem Tischinspektor neue Prügel ernten will. Und bei Präzeptoren klagen wäre sein Unglück ... Wirklich gingen Prügel und Mißhandlungen zuletzt so weit, daß ich in beständiger Angst lebte und selbst keinen ruhigen Schlaf mehr genoß. Denn da der Fälle so viele waren, wo die Obern einen Untern zu prügeln ein scheinbares Recht fanden, so dachte ich sogar im Traume an diese und fuhr alle Augenblicke im Schlafe auf, weil ich bald träumte, daß ich meine Hymnos vergessen, bald daß ich meine Schalaune verkehrt umgetan, bald daß ich das Gebet verschlafen, bald daß ich eins der Schulbücher zurückgelassen hätte usw., so daß mir endlich die Schule zu einer Hölle wurde.

Cönakel: Speisesaal
ambulieren: spazierengehen
Diätetik: Gesundheitslehre
» Salve cordis ... «: Gruß dir, Freude des Herzens, Gruß, Jesu, Dir ...
Inspektoren: Primaner mit Aufsichtsvollmacht
Visitation: Untersuchung, Überprüfung
vigilieren: auf-, abpassen
Hymnos: Gesangbuch
Schalaune: Schülermantel

Aus: Carl Friedrich Bahrdts Geschichte seines Lebens ..., 1.Teil, Frankfurt/ Main 1790

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