JOHANN WOLFGANG GOETHE
Wunderbares und Unerfreuliches im Dom
Auf immer gleich ruhigem Wege kamen wir vor der Mittagsstunde im Scheffel an, wo uns ein alter Kellner mit großer Gemütsruhe in den bekannten alten Zimmern empfing, uns jedoch nachher mit Gemütlichkeit, als er merkte, daß wir gemütlich seien, die neuesten Kriegsereignisse erzählte. Die Pässe wollten ihm gar nicht ernsthaft vorkommen, doch versprach er, wenn wir es verlangten, sie vidiren zu lassen.
Da es morgens früh gar zu sehr gestaubt hatte, gingen wir nach dem Dom, um Regen zu erbitten; allein der Himmel hörte uns zu früh, und wir wären beinah tüchtig durchgenetzt worden. Wir gelangten jedoch glücklich in das altheilige, nunmehr vermodernde Gebäude, woraus wir gern einiges durch Kauf, Tausch oder Plünderung an uns gebracht hätten. Unter den Schnitzwerken der Chorstühle sind sehr hübsche Gedanken. Ein ganz dürrer, rebenartiger Stab schlängelt sich und wird durch mitumschlungene akanthartige Blätter belebt. Noch sehr schöne gemalte Fensterscheiben sind übrig, ein Teppich, von dem die Teile der Figuren und des Grundes einzeln verfertigt und hernach mehr zusammengestrickt als genäht sind. Manches Größere und Kleinere von Bronze. Das Bild einer heiligen Schusterstochter, die zum Wahrzeichen den Schuh noch auf der Hand trägt. Ein Graf hatte sie wegen ihrer großen Schönheit geehelicht. Er starb früh und sie nahm den Schleier. Sie muß sehr hübsch gewesen sein, da sie, nicht zum besten gemalt etwas aufgefrischt und noch ein wenig lakkiert, doch immer noch reizend genug aussieht. Was aber besonders Freund Meyern zu erzählen bitte, ist folgendes: Das steinerne Bild eines Bischofs, Gerhard von Goch, hat mich in Erstaunen gesetzt; das heißt das Gesicht. Er ward 1414 installiert, zog aufs Coneilium zu Costnitz 1416 und ist derjenige, dem die Naumburger ihre Angst und wir das vortrefflich Schauspiel »Die Hussiten« verdanken. Er starb 1422. Nun aber kommt die Hauptsache. Das Gesicht nämlich ist so individuell, charakteristisch, in allen seinen Teilen übereinstimmend, bedeutend und ganz vortrefflich. Die übrige Figur ist stumpf und deutet auf keinen sonderlichen Künstler. Nun erkläre ich mir dieses Wunder daraus, daß man sein Gesicht nach dem Tode abgegossen und ein nachahmungsfähiger Künstler diesen Abguß genau wiedergegeben habe. Dieses wird mir umso wahrscheinlicher, weil in den Augen eine Art von falscher Bewegung erscheint und auch die Züge des untern Gesichts, bei sehr großer Natürlichkeit, doch nicht lebendig sind. Uralte Hautreliefs, gleichzeitig mit dem Kirchenbau. Sie stellen in einem Fries die Passion vor, sind höchst merkwürdig. Ich erinnere mich keiner ähnlichen. Doch konnte ich sie nicht scharf genug sehn und wüßte nichts weiter darüber zu sagen; denn wir eilten freilich wieder aus dem Heiligtum, wo es aus mehr als einer Ursache feucht, kalt und unfreundlich war. Solche Räume, wenn sie nicht durch Meßopfer erwärmt werden, sind höchst unerfreulich. An sehr schönen und eleganten, zwischen die katholischen Pfeiler eingeschobenen protestantischen Glasstühlen ist kein Mangel, so daß die Honoratioren sich nicht zu beschweren haben. Auf mein Befragen versicherte mir der Küster, der Prediger habe sich in diesem weiten und wunderlich durchbrochenen Raum gar nicht anzugreifen, wenn er nur deutlich artikuliere und das letzte Wort so genau ausspreche wie das erste. Das ist also ohngefähr wie auf dem Weimarischen Theater und wie Überall, und hieraus kann man sehen, was Reisen für einen großen Nutzen bringt.