StatistikProtokoll '99

Mitteldeutsche Zeitung, 25.11.1993

Altstadt übte großen Reiz aus

Siegmund von Schultze-Gallera war einer der bedeutensten Chronisten Halles und des Saalkreises - 27 Bücher geschrieben
Von ANKE HOPPE

Siegmar von Schultze Gallera - ein Name, der heutzutage leider vielen Hallensern unbekannt ist. Dabei galt der Mann zu Lebzeiten als einer der bedeutendsten Stadtchronisten und Heimatforscher Halles. Mit insgesamt 2 7 Büchern sowie etwa 1000 Artikeln in den verschiedensten Zeitungen lieferte er einen wahrhaft umfangreichen Beitrag zur Aufdeckung der Vergangenheit unserer Umgebung. Kaum einer der sich intensiver mit der Geschichte Halles und des Saalkreises befaßt, kann Schultze-Galleras Schriften einfach übergehen. Wer war dieser Mann, und worin liegt noch heute die Bedeutung seines Lebenswerkes?

Siegmar Schultze, durch spätere Adoption von Schultze-Gallera, wurde am 6. Januar 1865 in Magdeburg geboren. Er stammte aus einer Beamten- bzw. Lehrerfamilie. Von frühester Kindheit an wurden er und seine beiden Geschwister im Sinne preußischer Zucht und Ordnung erzogen. Werte wie Pünktlichkeit, Sauberkeit und Sparsamkeit spielten eine große Rolle. Dies prägte sein gesamtes Leben. Schon als kleiner Junge zeigte Schultze-Gallera ungewöhnlich reges Interesse an der Vergangenheit seiner Heimatstadt. Dank seines Vaters, der mit ihm zahlreiche Ausflüge und Wanderungen zu historischen Stätten unternahm, lernte er Magdeburg und die nähere Umgebung sehr genau kennen. Daneben verbrachte er viel Zeit bei seiner Großmutter, die ihm immer wieder Geschichten über die Vorfahren seiner eigenen Familie erzählte.

Gehörte zu den besten Schülern

Nach dem Besuch einer kleine Privatschule bestand Schultze-Gallera als einer der Besten 1874 die Aufnahmeprüfung für das Pädagogium zum Kloster "Unser lieben Frauen". Es war zu damaliger Zeit ein sehr berühmtes Gymnasium. In dieser Zeit entdeckte er auch seine dichterische Ader. Er schrieb kleinere Erinnerungen und Gedichte nieder. Letztere reihten sich alle um ein Thema - die Verherrlichungg germanischer Völker und Deutschlands. Während der

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Porträt des Stadtchronisten nach einer
Zeichnung von Emil Stumpp

Schulzeit trat Schultze-Galllera in Magdeburg dem Schülerbund der "Lebendigen" bei. Ihm gehörten z. B. Johannes Schlaf, Hermann Conradi oder Arno Holz an, welche einige Jahre später in der Öffentlichkeit als Dichter hervortraten. Die Mitglieder des Bundes kritisierten den damaligen Staat, das Erziehungswesen sowie die Kunst und versuchten, sich neue Maßstäbe zu setzen. Sehr bald schon zerfiel der Schülerbund, da viele seiner Mitglieder nach beendeter Schulzeit das Gymnasium verließen, so auch Schultze-Gallera. Nach glänzend bestandenem Abitur kehrte er Magdeburg den Rücken zu und siedelte 1884 nach Halle über, um ein Studium zu beginnen.
'Sein Ziel war es, ganz im Sinne der Familientradition, später den Beruf eines Oberlehrers zu ergreifen. Aus diesem Grund entschied er sich für ein Studium der Germanistik. Daneben belegte er noch Veranstaltungen der Archäologie und der Geschichte. Das alte Halle übte von Anfang an einen großen Reiz auf Schultze-Gallera aus. Während zahlreicher Spa ziergänge und Entdeckungstouren erkundete er auch die kleinsten Gassen der Stadt sowie die umliegenden Ortschaften. Sooft sich ihm die Gelegenheit bot, kam er mit den Einwohnern ins Gespräch über ihre Heimat. Vieles von dem, was ihm an interessanten Begebenheiten erzählt wurde, notierte er und verwendete es später in seinen Schritten.

Lehrte an der Universität

Nachdem Schultze-Gallera im Winter 1887/88 dank hervorragender Leistungen den Doktorentitel in der Germanistik errungen hatte, erledigte er sein Probejahr für den Schuldienst am hallischen Stadtgymnasium. Zurückgekehrt an die Friedrichs-Universität (ehemaliger Name der Martin-Luther-Universität) bestand er das Staatsexamen als Oberlehrer. Entgegen seiner anfänglichen Absicht ging Schultze-Gallera nicht in den Schuldienst zurück. Er blieb an der Universität, um sich auf seine Habilitation vorzubereiten. Nach drei Jahren hatte er es dann geschafft. Er erhielt die Lehrbefugnis.
Von 1892 bis zum Wintersemester 1932/33 arbeitete Schultze-Gallera als Privatdozent an der Philologieschen Fakultät der Universität. Er hielt u. a. Vorlesungen zur neueren deutschen Literaturgeschichte. Neben seiner Lehrtätigkeit begann er sehr bald, Bücher zu schreiben. Dabei ging es vor allem um das literarische Schaffen Goethes. Um diese Forschungen voranzutreiben, ließ er sich von der Universität für drei Jahre beurlauben und siedelte 1896, kurz nach dem er geheiratet hatte, nach Weimar über. Mit seinen Veröffentlichungen hatte er jedoch wenig Erfolg. Auch die von ihm erhoffte baldige Berufung zum Professor blieb aus. So mußte er allmählich erkennen, daß aus seiner angestrebten akademischen Laufbahn nichts wurde. Er blieb sein Leben lang Privatdozent.
Etwa ab 1910 wandte sich Schultze-Gallera von der Germanistik ab. Er konzentrierte sich nun voll auf das Gebiet, welches von Beginn an seiner Neigung am meisten entsprach, nämlich die Geschichte. Hier endlich hatte er den Erfolg, den er sich schon immer erhofft hatte. Zunächst entstanden einige kleinere Arbeiten zur deutschen Geschichte, in denen er seine Ansichten über den damaligen Staat, die Regierung und Kultur darlegte. Im Jahre 1912 wurde Schultze-Galleras erstes heimatgeschichtliches Werk unter dem Titel "Die Geschichte des Saalkreises" veröffentlicht. Es war wohl der erste Versuch bis dahin, eine zusammenhängende Darstellung der Vor- und Frühgeschichte dieses Gebietes zu liefern. Die Resonanz auf dieses Werk war positiv. Daraufhin erschien bereits ein Jahr später der erste Band seiner Wanderungen durch den Saalkreis". Insgesamt wurden es fünf Bände, die bis 1924 veröffentlicht wurden.
Trotz der Kriegs- und Inflationszeit waren die Bände schon kurz nach ihrem Erscheinen vergriffen. Mit diesem Erfolg hatte Schultze-Gallera endgültig den Durchbruch geschafft und galt in der Öffentlichkeit als einer der wichtigsten Heimatforscher Halles. Wie war dieser Erfolg zu erklären? Zunächst kam die allgemeine Stimmung vor und nach dem Ersten Weltkrieg dem entgegen. Zahlreiche Heimatbünde und Jugendvereine wurden gegründet, Heimatkalender herausgegeben und Lokalzeitungen richteten heimatgeschichtliche Beilagen ein. Das Werk verdankt seine Beliebtheit vor allem aber der Fähigkeit Schultze-Galleras, den Inhalt für jedermann eingängig und verständlich darzustellen. Außerdem schrieb Schultze-Gallera eine Vielzahl kleinerer Abhandlungen sowie hunderte Zeitungsartikel zu speziellen Gebieten, z. B. über die Burg Giebichenstein und die Burg Wettin, Mit der Geschichte der Heide befaßte sich Schultze-Gallera im 1933 entstandenen Buch "Die hallesche Heide". Stellenweise übertreibt er seine Schilderungen von Räubern, Wölfen oder Pistolenduellen, in dem er ein recht düsteres Bild von der Heide entwirft. Obwohl dadurch die historische Exaktheit geschmählert wird, liest sich das Buch doch sehr spannend. Vieles von dem, was beschrieben wird, kann der Leser noch heute bewundern, wie z. B. die Gaststätte "Waldkater". Anderes wird nur für jenen sichtbar, der sich genauestens in der Heide auskennt. Dazu zählt der alte Heidefriedhof, der heute fast völlig verwildert ist.
Neben Schultze-Galleras Arbeiten zum Saalkreis bildeten die Forschungen zur Stadtgeschichte Halles einen zweiten Schwerpunkt seines Schaffens. Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erschienen auf dem halleschen Büchermarkt die ersten Lieferungen eines Werkes, das es in dieser Art und Weise bis dahin noch nicht gegeben hatte. Die Rede ist von Schultze-Galleras "Topographie oder Häuser- und Straßengeschichte der Stadt Halle a. d. Saale". Hierin beschreibt er die Entwicklung von Straßen, Plätzen, Märkten sowie privaten und öffentlichen Gebäuden der Stadt bis zum Jahr 1914. Bei den Bürgern fand dieses Buch starken Widerhall, zumal viele von ihnen ihr eigenes Viertel oder ihre Straße darin erwähnt fanden.
Für zahlreiche Menschen wurde es zum unentbehrlichen Nachschlagewerk, wenn sie etwas über die Vergangenheit ihres Hauses erfahren wollten. Daneben ist es aber auch ein richtiges "Lesebuch", fesselnd und aussagekräftig geschrieben. Als eigentliches Hauptwerk Schultze-Galleras könnte man seine zweibändige "Geschichte der Stadt Halle" bezeichnen. Sie ist ein geschichtliches, kulturhistorischer Überblick über das mittelalterliche Halle. Im Vergleich zu früher erschienenen Stadtgeschichten zeichnet sich Schultze-Galleras Arbeit durch eine übersichtliche, auf großen Zusammenhängen beruhende Darstellung aus. Dadurch wurde der umfangreiche Stoff für die Leser leicht erfaßbar, was sicherlich mit zur großen Beliebheit sowie schnellen Verbreitung des Werkes beitrug.

Häusernamen als Tradition

Als Ergänzung dazu erschien 1930 eine einbändige Gesamtgeschichte unter dem Titel "Die Stadt Halle". Den Schwerpunkt der Darstellung legte Schultze-Gallera auf die Entwicklung der Kulturgeschichte von den ältesten Zeiten bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Er war bemüht, die Wandlungen von Sitten, Moralvorstellungen und Lebensanschauungen aufzuzeigen. Für das 1931 veröffentliche Buch "Die Häusernamen und Häuserwahrzeichen der Privathäuser, Gasthöfe, Salzsiederhauser, Apotheken und Logen in Halle" dienten ihm mittelalterliche Schöffenbücher und Zeitungen zweier Jahrhunderte als Grundlage, Häusernamen und -wahrzeichen verstand Schultze-Gallera als bedeutenden Teil deutscher Traditionen. Deshalb bedauerte er es sehr, daß sie im Zuge der durchgehenden Nummerierung der Häuser Mitte des 18. Jahrhunderts verschwanden, und nur noch vereinzelte Reste übriggeblieben waren. Sein Anliegen war es, den Menschen begreiflich zu machen, daß mit jedem Stück und jeder Tradition, die zerfällt, auch ein Stück menschlicher Vergangenheit unwiederbringlich verschwindet. Schultze-Gallera wußte aus eigener Erfahrung, daß es dann immer schwieriger wird, ein möglichst vollständiges Bild unserer Vergangenheit zu rekonstruieren.

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In diesem Haus in der Eislebener Straße in Halle Nietleben lebte
Schulze-Gallera bis zu seinem Tode im Jahre 1945

Die bisher genannten Werke stellen nur einen kleinen Bruchteil des gesamten Schaffens Schultze-Galleras dar. Darüber hinaus erschienen noch zahlreiche andere Schriften mit begrenzterer Thematik, so z. B. über Halle im Rokoko oder das hallesche Nachtleben im 18. Jahrhundert. Vergessen werden darf auch nicht seine große Sammlung von Sagen unserer Umgebung. Außerdem veröffentlichte er jahrelang Artikel in verschiedenen Zeitungen, wie z. B. im "Heide-Boten" oder in den "Hallischen Nachrichten".
Schultze-Gallera war von klein auf ein sehr naturverbundener Mensch. Er liebte weite, ruhige Wanderungen zur Entspannung und Erholung, fernab vom Tumult der Städte. Aus diesem Grund zog er mit seiner Frau und den vier Kindern im Jahre 1920 weg aus Halle in einen Ort im Saalkreis - nach Nietleben, wo er bis zu seinem Tod lebte. In der Natur konnte er seine Gedanken sammeln, um sich danach besser auf seine Arbeit am Schreibtisch zu konzentrieren. An großen Gesellschaften und Festen fand er keinen Gefallen. Jegliche Art von übermäßigem Lebensgenuß und Verschwendung waren ihm zuwider. Auch nachdem ihn seine heimatgeschichtlichen Schriften bekannt gemacht hatten, hielt er am einfachen, bescheidenen und zurückgezogenen Leben fest.
Charakteristisch für Schultze-Galleras Arbeitsweise war der enorme Fleiß und eine einzigartige Findigkeit, mit der er selbst die entlegensten Quellen und Informationen aufspürte. Durch seine gelegentlich etwas rechthaberische, aufbrausende und impulsive Art machte er es Freunden und Gesprächspartnern häufig nicht leicht, mit ihm umzugehen. Trotzdem waren Gespräche mit ihm für jeden ein Gewinn, da er beinahe unbegrenzt Geschichten über die Heimat und deren Persönlichkeiten erzählen konnte. Bis ins hohe Alter hinein arbeitete Schultze-Gallera unermüdlich weiter, sammelte Material und veröffentlichte es.

Am 15. September 1945 verstarb er nach längerer Krankheit im 81. Lebensjahr. Beerdigt wurde er auf dem Granauer Friedhof bei Nietleben. Zu DDR-Zeiten geriet Schultze-Gallera in der breiten Öffentlichkeit allmählich in Vergessenheit. Zwar blieb er den Menschen, die ihn oder seine Bücher gekannt hatten, in Erinnerung, der jüngeren Generation hingegen war sein Name weitestgehend unbekannt. Ein Grund dafür ist, daß seine Bücher nicht neu aufgelegt wurden. Einerseits hing dies sicherlich mit Schultze-Galleras antisemitischer, deutsch-nationaler Haltung zusammen. Andererseits spielte die traditionsbewußte Heimatgeschichte über Jahre hinweg nicht die Rolle, wie es jetzt wieder der Fall ist.

Wer heutzutage ein Werk von Schultze-Gallera liest, wird von seiner Art zu schreiben begeistert sein. Natürlich muß man an einzelne seiner Fakten und Darstellungen mit Distanz herangehen, da er gelegentlich zu Ausschmückungen und Übertreibungen neigte. Zum anderen ist seit den Studien Schultze-Galleras eine lange Zeit vergangen, in der die Forschung nicht stillstand. Verschiedene Angaben sowie historische Darstellungen von ihm sind deshalb veraltet, ungenau und zum Teil widerlegt worden. All das sollte beim Lesen seiner Schriften bedacht werden, schmählert jedoch keinesfalls die Bedeutung seines Lebenswerkes.

Wertvolle "Topographie"

Wer heute einen Stadtrundgang durch Halle macht, sollte noch immer auf seine "Topographie" zurückgreifen. Obwohl sie schon vor über 70 Jahren erschien, gibt es bis jetzt kein Werk gleichen Ranges, auch wenn dies aufgrund zahlreicher baulicher Veränderungen in der Stadt dringend notwendig wäre. Schultze-Gallera hat mit seinem Lebenswerk große Verdienste um die Aufdeckung der Geschichte und Kulturentwicklung Halles und Umgebung erworben. Die Sichtung und Neuherausgabe einiger seiner Hauptwerke wäre deshalb wünschenswert.


Hallesches Tageblatt Nr. 22 vom 27.01.1994

Saalkreis-Wanderungen und Studium der Damenwelt
Dr. Siegmar Baron v. Schultze Gallera in Vorfahren-Tradition

Während des furchtbaren Unwetters, das am Dreikönigstag 1865 über ganz Deutschland tobte, wurde er geboren als drittes Kind seiner Eltern. Sein Vater, der aus einer alten, schon um 1300 in Halle und dem Saalkreis lebenden Familie stammte, war hier im Regierungspräsidium Leiter der Kommunalaufsicht, seine Mutter, Alemannin vom Bodensee, die Tochter eines Bildhauers, der den Magdeburger Dom und andere Gebäude restaurierte.

Nach wechselhafter Schulzeit aber gut bestandenem humanistischen Abitur verließ er 1884 die Stadt seiner Kindheit mit dem Versprechen, Jura zu studieren. Doch sein Lebensziel war, unabhängiger, auf sein Familienvermögen gestützter Wissenschaftler zu werden, nicht Beamter. Und so begann er zum Entsetzen seiner Familie in Halle Germanistik, Geschichte (und abseits der Universität nicht weniger intensiv die halleschen Damen) zu studieren, nicht ohne Erfolg, denn dreiundzwazigjährig wurde er magna cum laude zum Doktor promoviert. Zähneknirschend folgte er anschließend der für den Weigerungsfall mit Unterhaltssperre Nachdruck verliehenen Weisung seiner Eltern, nun auch das Oberlehrer-Staatsexamen abzulegen.

Er bestand es nach einem widerwillig ertragenen Probejahr am halleschen Stadtgymnasium und schwor sich, nie wieder in seinem Leben eine Schule zu betreten. Vielmehr bereitete er seine Habilitation vor. die er drei Jahre später mit Auszeichnung erreichte. Nun installierte er sich als Privatdozent für Neuere und Moderne Litratur in Halle.

Auch hier zeichnete er sich aus: durch übervolle Hörsäle und unkonventionelle Ansichten, nicht aber bei den Meinungsführern der Universität und den Halbgöttern im preußischen Kultusministerium. Noch weniger verzeihen konnten ihm diese Herren seinen Umgang mit jüdischen Freunden wie dem SPD-Reichstagesabgeordneten Dr. Gradnauer und dem Kollegen Professor Cantor, Unverhohlen verhöhnte er durch Spottgedichte den üblichen Hurrapatriotismus und Kaiser Wilhelm II., den er für unfähig und eitel hielt. Dies alles und daß er die Unverfrorenheit besaß, sich mit Cantor dem halleschen Arbeiterbildungsverein - eine verbotene Vereinigung als Dozent zur Verfühgung zu stellen, brachte ihm den Ruch eines suspekten Demokraten ein. Als er darin auch noch nach dreijähriger Forschung in Weimar "im Hause Goethe einige Skelette ausgrub" und sich somit am geheiligten Nationalheros vergriff, stand fest: dieser Mann war einer Professur nicht würdig.

1893 hatte er Luzy Lözius geheiratet, deren Familie das spätere Walhalla-Theater am Steintor gehörte; sie gebar ihm drei Söhne und zwei Töchter. 1899 von Weimar nach Halle zurückgekehrt, kaufte er das Haus Friedenstraße 14 in Giebichenstein, nahm seine Vorlesungen in vollen Hörsälen wieder auf und versorgte den Buchhandel nicht nur mit Fachliteratur sondern auch mit zeitkritischen Schriften, in denen er vorzugsweise den baldigen Untergang der Monarchie voraussagte. Mit seinem Freund Krauß aus Wien gab er eine Sammlung über Volkserotik und Sexualität heraus. "Nichts Menschliches ist mir fremd". schrieb er in seinen Erinnerungen.

Aber wann hat er denn nun mit der Heimatgeschichte begonnen?

Dieses Thema fing für ihn an "als unbeachtetes Rinnsal, bis es mich überschwemmte". Schon als Student packte ihn der Ehrgeiz, einige Punkte der Geschichte seiner Familie zu erhellen. Deshalb unternahm er zahlreiche Exkursionen in den Saalkreis, besonders nach Wettin, Krosigk und in die Archive des Giebichenstein. Das dabei anfallende Randmaterial wegzuwerfen, dünkte ihm zu schade. Um 1908 hatte sich so viel angesammelt, daß er sich entschloß, es durch gezielte Exkursionen und Archivforschung zu ergänzen und der Öffentlichkeit vorzulegen. So erschienen als erste Arbeiten die Vorzeit-"Geschichten des Saalkreises". "Die Burg Wettin und die Wettiner" und die Forschungsergebnisse über den Giebichenstein. Ihnen folgten noch vor dem Ersten Weltkriege die ersten Bände der Saalkreiswanderungen. 1915 begann er seine "Topographie der Stadt Halle" zu schreiben. Das Kriegsende verzögerte nicht nur das Erscheinen seiner Bücher, es brachte ihm auch im Frühjahr 1919 einen überstürzten Ortswechsel. In Panik geraten durch die Absicht der Siegermächte, die Hungerblockade gegen die Deutschen fortzusetzen, entschloß er sich, eiligst die Stadt zu verlassen, "die Feder mit der Mistgabel zu vertauschen", auf dem Lande zu leben "mit einem Acker, auf dem wir unsere Kartoffeln und Gemüse anbauen können, um zu überleben", wie er in seinen Erinnerungen schrieb. Was dabei herauskam, war der Ankauf des "Biertümpel-Palais" und von zwei Morgen schlechten Ackers im Arbeitervorort Nietleben.

In Nietleben fühlte er sich wie im Exil. Er zog sich ganz auf seine schlichte Behausung, die mit Altertümern und Kunstgegenständen vollgestopfte Zehn-Zimmer-Wohnung im ersten Stock des "Biertümpel-Palals" zurück. Kartoffeln und Gemüse baute er natürlich nicht an. Stattdessen schrieb er hier sein zweibändiges "Mittelalterliches Halle", die "Geschichte der Stadt Halle", eine Vielzahl kleiner Monographien zur halleschen Geschichte, fast tausend Artikel für die halleschen Zeitungen sowie "meine Dichtung und Wahrheit", eine im "Heideboten" erschienene eigenwillige Erinnerungsversion.

Noch immer zog er wie ein Magnet die halleschen Studenten jeder Fakultät an: einmal in der Woche hielt er seine Literaturvorlesung. Die ihm 1920 von der sozialdemokratischen Regierung angebotene Professur lehnte er ab. Drei Tage nach Hitlers "Machtergreifung" legte er seine Dozentur nieder. 1941 erkrankte er schwer an Krebs. Kurz vor seinem Tod am 15. 9. 1945 bat er, daß auf seinen Grabstein Nietleben/Granau eingemeißelt wurde: "vir priscus" (ein Mann der alten Art).

HGG

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