Erich Neuß
Landpartie durch Aprikosendörfer
Eine Wiederentdeckung - Erster Band der "Wanderungen durch die Grafschaft Mansfeld" wurde nach über 60 Jahren neu aufgelegt
Von FRED REINKE, Mitteldeutsche Zeitung, Mai 1999
Das Buch sei wirklich "erwandert", sagt der Verfasser Erich Neuß im Vorwort des ersten Bandes seiner "Wanderungen durch die Grafschaft Mansfeld". Nach über 60 Jahren ist der erste Band mit dem Untertitel Im Seegau" neu aufgelegt worden. Besser als mit dieser Veröffentlichung hätte man den verdienstvollen Heimatforscher und Hochschullehrer Neuß (1899-1982) nicht ehren können, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre.
Die Wanderungen des Regionalhistorikers führen in eine scheinbar bekannte Region vor der Haustür: Teutschenthal und Bennstedt, Langenbogen und Seeburg, die Weinanbau- und Aprikosendörfer um Höhnstedt, der Süße See sowie Schraplau sind wesentliche Stationen, die Neuß in Augenschein genommen, erkundet und darüber geschrieben hat. Was er über den geschichtsträchtigen Landstrich vermittelt, gleicht Entdeckungen, an denen der zeitgenössische Pilger wahrscheinlich achtlos vorbeigehen dürfte. Umso mehr, als der heutige, von Zeitnot geplagte Tourist vorwiegend auf Rädern unterwegs ist und sich so um die Chance bringt Reste einstiger Besiedlungen, abseitige Wege, Friedhöfe, Kirchen und historische Denkmäler überhaupt wahrzunehmen.
Neben Wissenswertem zu Landschaft, Geschichte und Volkstum der Mansfelder Region vermittelt Neuß, der auch Direktor des Stadtarchivs und der städtischen Bibliotheken in Halle war, vor allem Stimmungsbilder, die der Natur und den Jahreszeiten abgelauscht sind. Sie wecken durchaus Assoziationen zu den berühmten Wanderungen, die der Dichter Theodor Fontane in der Mark Brandenburg unternahm, auch wenn Erich Neuß sich in aller Bescheidenheit nicht für befugt hielt, "in einem Atem" damit verglichen zu werden.
Etwa, als Neuß sich zum Schloß Seeburg aufmacht und die Landstraße vor dem Ort passiert, notiert er: "Unbeweglich schimmert der See im Morgenlichte und unbeweglich spiegelt sich das silbergraue Gemäuer des Schlosses Seeburg in der klaren Flut". Solche lyrischen Passagen wechseln mit biographischen Erzählungen über einstige Grafen, Ortsgeistliche, Amtsräte oder Bauherren, die sich in den Ansiedlungen Verdienste erwarben oder bleibende Spuren hinterließen.
Anschaulich erzählt Erich Neuß vom Ende des Salzigen Sees, der in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts versiegte. Lange rätselten die Anwohner der umliegenden Ortschaften über den Verbleib der Wassermassen, bis sich endlich herausstellte, daß sie in die um Eisleben gelegenen Schächte des Mansfelder Kupferschieferbergbaues strömten. Eine Katastrophe sowohl für den Bergbau wie für die anliegenden Seedörfer. Denn mit der endgültigen Trockenlegung starb die Fischerei. Und der Badebetrieb, der bis dahin Fremde angelockt hatte, kam zum Erliegen. Die Bewohner der Seedörfer begleiteten den langsamen Untergang mit sentimentalen Liedern: "So leb denn wohl, du salz'ger See! Wie tut er mir im Herzen weh! "
Neuß läßt gelegentlich auch Zeitzeugen zu Wort kommen, die lange vor ihm die Vorzüge des Mansfelder Landes entdeckt hatten. So zitiert er einen Globetrotter, der den Seeburger Landwein lobte, allerdings mit dem deutlichen Hinweis, "er schmeckte gewürzt, aber sehr herbe, und ist wohl ohne Zucker zu trinken."
Im Jahre 1935 ist "Im Seegau" erstmals erschienen, das der Autor als "Wanderbuch" empfiehlt auch wenn er davor warnt, daß "Gasthauspreise und Angaben über Tankstellen in ihnen nicht zu finden" sind. Ob die ebenso sachlichen wie gefühlsbetonten "Wanderungen" heute noch als pragmatischer Wegweiser tauglich sind, muß freilich bezweifelt werden. Denn nach über 60 Jahren ist vieles, worüber Erich Neuß spannend erzählt und neugierig macht, längst gravierenden Veränderungen zum Opfer gefallen: Siedlungen haben ihr ursprüngliches Gesicht verloren, von Bauwerken sind nur noch Ruinen übrig geblieben, Straßen und Wege sind verschwunden oder nehmen längst einen anderen Verlauf.
Auch das Heimat- und Naturverständnis von Erich Neuß ist nicht ohne weiteres auf die Gegenwart übertragbar, da es sich an einem Ideal orientierte, das gegen die atemberaubende Industrialisierung zu Beginn dieses Jahrhunderts und eine damit verbundene Entwurzelung eines tradierten Volkstums gerichtet war. Trotz dieser Einschränkung bleiben die "Wanderungen" eine Fundgrube regional- und lokalkundlicher Fakten und ein Lesebuch poetischer Landschaftsschilderungen.
Erich Neuß: "Wanderungen durch die Grafschaft Mansfeld - Im Seegau"; Hrsg. vom Landesheimatbund Sachsen-Anhalt, fliegenkopf verlag, Halle 1999, 413 Seiten, 34,80 Mark.
ZITIERT
Auszug aus dem Vorwort von 1935: "Wanderungen durch die Grafschaft Mansfeld" von Erich Neuß:
"Die Wanderungen' sind keine Reiseführer, aber sie sind Wanderbücher, in Größe und Umfang so gehalten, daß man sie bequem in die Tasche stecken kann, Gasthauspreise und Angaben über Tankstellen wird man in ihnen nicht finden, aber man kann mit ihnen unzählige schöne Fahrten in das Mansfelder Land vorbereiten und die Freude an dem Erschauten vertiefen. In dieser Hinsicht nehmen die Wanderungen längst nicht alles vorweg, sondern lassen dem eigenen Erleben noch weiten Raum. ( ... ) Ich halte mich da an das Wort eines meiner treuesten Freunde, der freilich schon bald vor 125 Jahren seinen Wanderstab für immer aus der Hand legte, an Gottfried Seume, den syrakusischen Wanderer aus Poserna bei Weißenfels; er hat es gültig ausgesprochen: ,Wer geht, sieht im Durchschnitt thropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt."
Prof. Dr. habil. Erich Neuß
11.02.1899 in Frankfurt a. M. gest. 28. 12. 1982 in Halle (Saale)
Seit 1903 in Halle;
1920 - 1924: Studium der Nationalökonomie, Wirtschaft und Geschichte in Halle;
bis 1928: Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Leiter der Außenhandelsabteilung bei der Industrie - und Handelskammer in Halle;
1928: Direktor des Stadtarchivs und der städtischen Bibliothek;
1933 - 1936: auf Betreiben der nationalsozialistischen Stadtverwaltung beurlaubt, danach "wissenschaftlicher Hilfsarbeiter" im Amt für Statistik des halleschen Magistrats;
durch verstärkten Einfluß der SED innerhalb der Stadtverwaltung zur Aufgabe seines Amtes veranlaßt, arbeitete er bis 1956 freischaffend;
1957 - 1964: Professor für Landes- und Regionalgeschichte an derMartin-Luther-Universität Halle.
zahlreiche Veröffentlichungen zu unterschiedlichsten Bereichen hallescher Stadt- und Wirtschaftsgeschichte, bedeutende Arbeiten zur Wüstungskunde sowie zur Besiedlungsgeschichte des Saalkreises und des Mansfelder Landes.