In der Zeit des Übergangs vom 15. zum 16. Jahrhundert lebte in Merseburg an der Saale ein Bischof, namens Thilo von Trotha. Das war ein gar jähzorniger Herr, zumal wenn ihm eine Widerwärtigkeit die gute Laune verdorben hatte. - Das geschah aber auch einstmals auf der Jagd, als er den ganzen Tag auf seinem Rosse hinten in der Aue durch Sumpf und Moos und über Stock und Stein gesprengt war, ohne auch nur ein einziges Stück Wild erlegt zu haben. Verdrießlich zog er heimwärts nach seinem Schlosse, eilte sporenklappernd in sein Gemach im ersten Stock des Ostflügels, wo der alte Kämmerer Johannes, ein siberhaariger Greis, seiner wartete. Der Bischof warf die Jagdkleider ab und legte sein geistliches Habitus an.
Nun besaß der Bischof einen goldenen Siegelring, der ihm als Geschenk seines Freundes, des Bischofs von Naumburg, besonders wert und teuer war und den er in einem besonderen Kästchen aufzubewahren pflegte. In der Eile hatte er dieses am frühen Morgen mit dem Kleinode unverschlossen am offenen Fenster stehen lassen und als er jetzt danach griff, vermißte er den Ring. Sofort überzog Zornesröte sein Gesicht! Johannes aber, der seinen Herrn wohl kannte, erbleichte und vermochte kaum auf die heftige Frage des Bischofs nach dem Ringe eine entschuldigende Antwort zu stammeln. Das erschien dem Bischof verdächtig, und in seinem Jähzorn vergaß er die langjährige Treue seines alten Dieners und beschuldigte ihn des Diebstahls. Da aber widersprach ihm dieser im Bewußtsein seiner Unschuld mit energischen Worten, worauf ihn der dadurch nur noch mehr gereizte, zornige Bischof in den Turm werfen ließ. Aber der Greis beteuerte weiter fort und fort seine Unschuld.
Im Dienste des Bischofs stand jedoch auch ein Jäger mit Namen Ulrich, ein leichfertiger Mensch, der dem Johannes nicht wohlwollte, weil ihm dieser seines Charakters wegen die Hand seiner jüngsten und ihm liebsten Tochter verweigert hatte. Der Jäger war wegen dieser Abweisung von Rachedurst erfüllt und lehrte einem halbzahmen Raben, der im Schloß frei umherflog, im Geheimen die Worte: "Hans Dieb!" - Als der Rabe nun auf einmal diese Worte im Schloßhof plärrte, glaubte jeder des abergläubischen Volkes, daß hier Gottes Stimme sprach, auch der Bischof selbst. Trotz seiner Unschuldsbeteuerungen wurde der alte Diener Johannes nach dem strengen Gesetz der damaligen Zeit zum Tod durch das Schwert verurteilt.
Und wenn der Schenker des Ringes, der Naumburger Bischof, nicht für Johannes gebeten hätte, wäre dieser vielleicht sogar gehängt worden. - Der Naumburger war zwar auch nicht von der Unschuld des alten Johannes überzeugt, aber er befürchtete, daß Bischof Thilo hier in seinem Jähzorn nicht gerecht geurteilt hatte. Johannes aber beteuerte weiter seine Unschuld und hob noch auf dem Schafotte, das man dem Unglücklichem im Schloßhof errichtet hatte, zum Zeichen seiner Schuldlosigkeit die Hände zum Himmel. Der Meister Scharfrichter band sie ihm daher fest und der strenge Spruch wurde vollzogen. Aber noch nach dem Fall des Hauptes hoben sich die Arme nach oben, als die Bande gelöst worden war und der kopflose Rumpf richtete sich auf, so daß das anwesende Volk sehr erschrak.
Jahre vergingen und das Grab des Dieners an der Friehofsmauer deckte bereits dichter Rasen. Da geschah es, daß in einer Gewitternacht der Sturm die Dachbekleidung von einem der sieben Türme von Schloß und Dom, es war wohl der "schwarze Turm", herunterfegte. Und als am anderen Morgen der eilig herbeigerufene Schieferdecker mit seinen Gesellen den Turm bestieg, fanden sie zu ihrem Erstaunen hoch oben im Gamäuer das Nest des Raben und drin den Siegelring des Bischofs, den der diebische Rabe, ein Freund glänzender Sachen, einst aus dem Kästchen entwendet hatte. Des getreuen Dieners Unschuld war somit erwiesen.
Der Bischof aber schlug in sich. Fortan entsagte er aller Weltlust und lebte bis zu seinem Tode in strenger Buße. - Der Jäger Ulrich aber war am gleichen Tage, als der Ring im Nest des Raben entdeckt wurde, spurlos verschunden.
An den Mauern des Domes und Schlosses aber ließ Bischof Thilo zur beständigen Erinnerung an dieses Geschehen ein Doppelwappen anbringen, das den Raben mit dem Ring im Schnabel in einem Schild zeigt und darüber den listigen Fuchs als Bild des Jägers, sowie das Kreuz des Bischofs in dem anderen Schild und darüber die zwei zum Himmel erhobenen Hände. - Auch ließ er vor dem Schlosse einen Käfig aufstellen, in den der Rabe gebracht wurde und der noch heute darin zu sehen ist und auch weiterhin zum ewigen Gedächtnis zu sehen sein wird, damit nie wieder im Jähzorn ein falsches Urteil gefällt wird.
Wenige Schritte vom Eingang in die oberen Geschosse des Ostflügels, vor dem Kammerturm, befindet sich im Pflaster des Schloßhofes eine Steinplatte mit dunklen, roten Flecken, in welchem man die untilgbaren Spuren des unschuldig vergossenen Blutes des Dieners Johannes sieht.
Aber auch im ersten Stock des Ostflügels, wo sich die Gemächer des Bischofs und später der Große Speisesaal des Schlosses befanden, will man nachts Johannes mit dem Kopf unterm Arm verschiedentlich gesehen haben.
Walter Saal, Sagen des Kreises Merseburg
Merseburger Land, Beiträge zur Geschichte und Kultur des Kreises Merseburg, Museum
Merseburg 1977